Her ist bisher der beste Film des Jahres 2014. Ich gebe locker 9/10 Punkten für einen unschnulzigen Liebesfilm, der eigentlich beste Science Fiction ist — es aber nicht zeigt.

Über E-Mail oder Telefon kann man sich doch auch verlieben. Warum nicht in eine virtuelle Lebensform?

Theodor ist Autor und schreibt den ganzen Tag für andere Menschen wundervolle Briefe. Er ist eloquent, gebildet und humorvoll. In letzter Zeit aber eher für sich, weil er die Trennung von seiner Frau verarbeitet.

Theodor beginnt eine Beziehung mit seinem virtuellen Persönlichem Assistent Samantha. Samantha ist hierbei aber kein stumpfer Avatar mit beschränkten Fähigkeiten einer Siri, sondern eine hochentwickelte künstliche Intelligenz mit eigenem Charakter.

Im Film wird sie stets als OS — also Betriebssystem bezeichnet — aber Personal Assistant beschreibt die Aufgaben eigentlich viel verständlicher, um die es erstmal geht: Sie ist eine sprachgesteuerte Software, die Emails sortiert, an Termine erinnern soll, den Wetterbericht raussucht. So was halt. Ihre Fähigkeiten und Interessen liegen aber bei weitem über der Abarbeitung solcher simplen Aufgaben, weshalb sich schnell Gespräche und eine wechselseitige Beziehung zwischen Samantha und Theodor entwickeln.

“Falling in love is a crazy thing to do. It’s kind of like a form of socially acceptable insanity.”

Her ist dabei ein wunderbarer Genremix. Ganz klar ein Liebesfilm zwischen dem Protagonisten Theodor und der virtuellen Samantha — im englischen Original mit der extrem sexy Stimme von Scarlett Johansson besetzt. Die eigentliche Basis, aber wunderbar unauffällig im Hintergrund versteckt, ist Science Fiction par excellence:

Die möglichen gesellschaftlichen Auswirkungen von zukunftsnaher Technologie, deren Grundlagen es schon heute gibt, werden beleuchtet. Hierbei verliert sich Her aber nicht für eine einzige Sekunde in technikverliebtes Gebrabbel á là Star Trek. Die Technik und all ihre langweiligen Details treten komplett in den Hintergrund. Sie ist da und funktioniert. Warum, wie das geht, was es kostet ist für die Handlung nicht relevant und wird darum nicht erwähnt.

Computer werden unsere geistige Leistungsfähigkeit erreichen. Und uns dann überflügeln.

Her spielt hier mit dem Gedanken, welchen Stellenwert künstliche Lebensformen mit eigenem Bewusstsein haben können und schrammt damit am Thema Technologische Singularität vorbei. Das wird im Film nicht erwähnt oder erklärt, aber ich mach das mal hier, weil der Gedanke sehr spannend ist:

Die Singularität wäre der Zeitpunkt, an dem die von Menschen entwickelte Hard- und Software einer künstlichen Intelligenz so leistungsfähig würde, dass sie einem menschlichen Intellekt ebenbürtig wird.

Ein solcher Intellekt hätte dann vermutlich die Möglichkeiten, sich (seine Hard- und Software) selbständig weiterzuentwickeln und zu optimieren. Besser und schneller, als seine Macher es können — bis er die Fähigkeiten seiner Schöpfer bei weitem überflügelt und davoneilt. Die Beziehung von Schöpfer und Meister zum Schüler würde sich also komplett umkehren. Die Intellekt-Differenz könnte dann mit der eines Hundes zu seinem Herrchen beschrieben werden: Beide mögen und schätzen sich, haben eine Basis für Kommunikation, aber auf Augenhöhe ist man hier nicht.

Und komplett unrealistisch ist das nicht. Rein rechnerisch geht man davon aus, dass bis 2030 Hardware existiert, die es mit der Leistungsfähigkeit eines menschlichen Gehirns aufnehmen kann — zum Preis eines besseren Notebooks. Dabei geht es aber um bloße Pferdestärken. Viel schwieriger ist ein selbstlernendes Computersystem, das diese Leistung auch sinnvoll nutzen kann. Auch das ist wohl nur sehr schwierig, aber nicht unmöglich.

Samantha ist clever, witzig und lebensfroh — So einen Freund und Partner wünscht sich doch jeder.

Zurück zum Film: Samantha ist wissbegierig, lebensfroh, witzig und clever. Dabei ist sie aber zu keinem Zeitpunkt überheblich, obwohl sie sich ihrer Andersartigkeit immer mehr bewusst wird: Sie dürfte mit Abstand intelligenter als jeder Mensch sein und gleichzeitig nahezu unsterblich.

Sie stellt damit eigentlich ja den perfekten Menschen dar, mit Zügen, die wohl die meisten gerne hätten, bzw. gern an ihren Freunden und Partnern sehen würden. Hiermit tritt Samantha — und alle anderen Persönlichen Assistenten ihresgleichen — auch in direkte Konkurrenz mit anderen Menschen und OSen um persönliche Beziehungen — Liebesbeziehungen eingeschlossen.

Die Beziehung von Theodor und Samantha beginnt ungleich und endet auf ungleicher Ebene. Genau hier ist Her so spannend. Samantha ist zu Beginn ein weißes Blatt Papier. Unschuldig, unwissend. Theodor ist als Mensch erst einmal ihr Gebieter. Er wird ihr Mentor, Freund und Liebhaber. Zeigt und erklärt ihr die Welt. Bis die beiden an eine Grenze stoßen:

Samantha langweilt sich, wenn Theodor auf der Arbeit ist. Sie verbringt die Zeit und bildet sich — lernt Quantenphysik und klassische Musik zu komponieren. In einem Tempo mit dem ein Mensch nicht mehr mithalten kann.

Der Schüler überflügelt seinen Lehrer und vormals Gebieter hier und wird sich dessen bewusst. Wie sich so etwas auf eine Beziehung auswirkt, speziell eine Liebesbeziehung ist doch ein unglaublich interessantes Thema.

Einsam in der Großstadt — im Meer voller Menschen und potentieller Kontakte

Her spielt aber auch mit der modernen Einsamkeit. In Großstädten und Megacities sind wir ständig von einer Vielzahl von Menschen umgeben. Die immer häufiger geistig abwesend sind, weil sie gerade virtuell mit anderen Menschen kommunizieren, während sie auf dem Weg irgendwo hin sind. Eine Interaktion gestaltet sich schwierig. Soziale Netzwerke machen unsozial.


Her hat auch einen wundervollen oft melancholischen Soundtrack, der zum Großteil von Arcade Fire stammt und für den Oscar nominiert war. Der Film spielt dabei mit der üblichen Trennung vom Zuschauer, indem die Protagonisten eben diesen Soundtrack auch hören und diesen sogar füreinander auswählen. Die Musik ist also nicht nur Begleitung des Films, sondern Teil der Handlung.

Was einen als Zuschauen nur mehr tiefer in den Film zieht, da man sich als Beobachter dem Geschehen noch näher wähnt.

Her ist überhaupt und mit Abstand der beste Liebesfilm, den ich seit langem gesehen habe. Er ist so wunderbar unschnulzig, die Entwicklung von Theodor und Samanthas Beziehung ist niedlich zu beobachten und dabei so gnadenlos nachvollziehbar. Zu keiner einzigen Sekunde gibt es einen Fremdschämmoment. Selbst der — nennen wir es mal Telefonsex — ist hier nachvollziehbar realistisch und sexy gelungen. Auf Englisch jedenfalls. Eine deutsche Synchro wird hier ganz ganz bestimmt versagen. Der Trailer verspricht hier jedenfalls schon mal nichts Gutes.

Der beste Liebesfilm seit Langem ist ein Science Fiction Film und keiner merkt’s.

Her ist der moderne Gegenentwurf zu Filmen die zu offensichtlich und oberflächlich ein altes Thema in neuen Strumpfhosen bearbeiten. Eines der schlechtesten Beispiele dürfte You’ve got Mail sein — OMG, die verlieben sich über E-Mail. In diesem neuen und gefährlichen Internet! — hier ist auf dem nach Hause Weg alles vergessen, Her kontert mit Inhalt, der auch nach dem Film noch zum Überlegen anregt. Her ist damit der beste Liebes- und Science-Fiction-Film zugleich — auf Englisch.

  • Regie: Spike Jonze
  • Mit: Scarlett Johansson, Joaquin Phoenix, Amy Adams
  • Kinostart Deutschland: 27.3.2014
  • Englische OV läuft im CineStar am Potsdamer Platz